Im heutigen Interview aus unser Reihe "Veränderungen im Talent Management" freuen wir uns über die Antworten von Rüdiger Schönbohm, Organisations- und Managementberater sowie Business Partner IPA und Workshop-Leiter des Pre-Konferenzseminars beim Talent Management FORUM. Er war viele Jahre in der zentralen Organisationsentwicklung der Bosch-Gruppe tätig und zuletzt als Vice President verantwortlich für die Weiterentwicklung des Technologiekonzerns in ein vernetztes, agiles Unternehmen. Seit 2016 ist er als Organisationsberater und widmet sich vor allem Fragen der agilen Organisationsarchitektur und des systemischen Transformationsmanagements. Im Interview haben wir uns mit ihm über seine Vorstellungen zum Talent Management Ansatz unterhalten.
(1) Rüdiger - wie schon an anderer Stelle berichtet - wirst Du zusammen mit Ursula Vranken bei unserer Veranstaltung das Pre-Konferenzseminar zu einem Neuverständnis beim Talent Management moderieren und durchführen. Welche Veränderungen siehst Du bei dem Thema Talent Management, die ein Überdenken des Themas notwendig machen?
Rüdiger Schönbohm: Talente werden zunehmend Mangelware. Das liegt zum einen an der demografischen Entwicklung und zum anderen an einem exponentiell zunehmenden Wissen, vor allem in den Bereichen Technologie und IT. Was gestern noch aktuell war, ist morgen oft schon überholt. Viele Geschäftsmodelle, die über Jahre erfolgreich waren, werden abgelöst durch innovative Ansätze, für die aber sehr häufig "andere" Kompetenzen benötigt werden. Man denke nur an die Themenfelder KI, Data Analytics oder auch an den schon länger währenden Wandel im Bereich der Mobilität - weg vom Maschinenbau hin zu vernetzten Mobilitätskonzepten und elektrisch-autonomen Fahrzeugen. Unternehmen sind dabei gleich mit 2 massiven Herausforderungen konfrontiert: auf der einen Seite gilt es, die bestehenden Belegschaften "mitzunehmen", zu qualifizieren und zu kontinuierlichem Lernen anzuhalten und auf der anderen Seite die für die Wachstumsfelder so dringend benötigten Spezialisten zu finden und an sich zu binden.
(2) Was heißt das für die Disziplin des Talent Management - denn "Talente bzw. Spezialisten finden oder entwickeln" war ja bis dato schon die Zielsetzung des Talent Management. Wurde das nicht richtig gemacht? Oder muss es heute anders gemacht werden?
Rüdiger Schönbohm: Es ist weniger eine Frage, ob das bisher richtig oder falsch gemacht wurde. Wichtiger ist es zu realisieren, dass dem Talent Management aufgrund der veränderten Randbedingungen heute eine viel höhere Bedeutung als bisher zukommt. Die richtigen Talente zu haben und zu halten, wird zum kritischen Erfolgsfaktor für die Zukunft. In einer Zeit, wo es deutlich weniger Talent-Angebot als -Nachfrage gibt, muss sich daher auch das Talent Management selber verändern. Wir sehen hier eine deutliche Verschiebung der "Marktmacht" von den Talent-Nachfragern zu den Talent-Anbietern.
(3) Was sind die entsprechenden Werte und Philosophien, mit denen dann heute Talent Management betrieben werden muss?
Rüdiger Schönbohm: In vielen Unternehmen muss ein Wandel dahingehend erfolgen, dass Menschen (=Talente) zu allererst wieder als Wert (=Asset) und nicht vor allem als kostenintensive Ressource gesehen werden. Wir müssen wegkommen von dem Begriff der Human Ressources (HR) und verstehen, dass Menschen mit all ihren Talenten und Fähigkeiten, die sie mitbringen, den größten Wert darstellen, den ein Unternehmen hat. Wir sollten aufhören zu versuchen, Stellen oder Funktionen möglichst neutral, sachlich und umfassend beschreiben zu wollen, so als ob es sich um eine technische Spezifikation handelt, die für alle Zeit gilt, und für die man nur das passende Teil finden müsse. Diese starren und oft bürokratischen Ansätze werden den Erfordernissen des Geschäfts nicht mehr gerecht und unterbinden gerade jene Agilität und Flexibilität, die heute mehr denn je notwendig ist.
(4) Du siehst also die Förderung von Agilität und Flexibilität in Denken und Handeln als wichtigen neuen Fokus im Talent Management - weil die komplexe, unsichere und volatile (kurz VUCA) Umwelt das erfordert?
Rüdiger Schönbohm: Absolut. Auch hier gibt es wieder 2 Seiten: zum einen brauchen Unternehmen diese Flexibilität in den Köpfen, bei Führungskräften und bei Mitarbeitern. Dazu gehört, sich zu engagieren und zu interessieren, auch und vor allem in Feldern, für die man ursprünglich vielleicht nicht eingestellt wurde oder die nicht zu 100% der eigenen Stellenbeschreibung entsprechen. Wie sonst sollten Unternehmen Kraft aus dem bereichsübergreifenden, interdisziplinären Arbeiten schöpfen, wenn die Bereitschaft nicht da ist oder das Unternehmen sie nicht belohnt? Auf der anderen Seiten erwarten auch immer mehr Mitarbeiter Abwechslung und interessante Aufgaben in Ihrem Arbeitsumfeld. Bietet man das als Arbeitgeber nicht, läuft man Gefahr, diese Leute wieder zu verlieren - denn das Angebot auf dem Arbeitsmarkt ist ja groß genug.
(5) Statt dem Konformisten muss das Talent Management also eher den Querdenker suchen, finden und fördern?
Rüdiger Schönbohm: Querdenker wäre mir zu provokant und springt zu kurz. Denn es geht ja nicht (nur) darum, Leute zu finden, die alles in Frage stellen und meinen, sie wissen alles besser. Dieses Verhalten ist nach meiner Erfahrung äußerst riskant, denn es fordert die Widerstände aus den etablierten Einheiten geradezu heraus. Zumal dann, wenn diese etablierten Bereiche bisher sehr erfolgreich waren. Zu schnell werden die "Querdenker" dann neutralisiert und zu "Konformisten" oder sie verlassen das Unternehmen enttäuscht wieder. Gewonnen ist damit wenig. Viel wichtiger ist eine grundsätzliche Offenheit für Neues, verbunden mit der Fähigkeit, an Bestehendes "anzudocken". Das wiederum gilt für alle Ebenen im Unternehmen. Talent Management muss sich auf die Menschen fokussieren, die einen ganzheitlichen Blick haben und nicht weitere Silos bauen.
(6) Welche neuen und alten methodischen Ansätze und Instrumente aus dem Talent Management sowie der Personal- und Organisationsentwicklung siehst, die eine solche Zielsetzung unterstützen bzw. in diese einzahlen?
Rüdiger Schönbohm: Die alle aufzuzählen würde sicherlich hier den Rahmen sprengen. Für mich gibt es 2 unterschiedliche Kernaspekte des TM: zum einen "Talente finden", also das Recruiting und zum anderen "Talente halten und entwickeln". Beim Recruiting geht es darum, ein vernünftiges Employer Branding aufzubauen, das Unternehmen nach außen attraktiv zu machen und dorthin zu gehen, wo die Talente sind. Das beginnt bei einem glaubhaften und durchgängigen Auftritt in den sozialen Medien, geht über eine frühe Bindung potenzieller Mitarbeiter, z.B. über Studenten-Programme, Communities, Career Summits u.ä., und mündet in der direkten Ansprache von Kandidaten, z.B. über Nutzung der eigenen Young Professionals als Botschafter. Intern gibt es zahllose Möglichkeiten der Förderung von Talenten, sei es über (Reverse) Mentoring, Job Rotation, Coaching, Patenschaften, Blended Learning, Referenten-Tätigkeiten, Community-Management, uvm. Für die Organisationsentwicklung ist ein zentrales Thema die Schaffung einer guten Durchlässigkeit der Organisation, sowohl zwischen funktionalen Bereichen als auch zwischen heute oft noch isolierten, standardisierten Karrierepfaden.
(7) Mit welchen Erwartungen kommst Du zum Talent Management FORUM - natürlich zu Deinem Seminar und der Konferenz?
Rüdiger Schönbohm: Konferenzen sind immer eine sehr gute Möglichkeit zu sehen, "wo" ein Thema steht. Ich bin sehr gespannt und freue mich auf die Seminar-Teilnehmer, ihre Erfahrungen und Meinungen. Diese komprimierten Praxis-Checks sind für mich sehr wichtig. Natürlich freue ich mich auch auf den Austausch mit den Kolleg(inn)en und darauf, wieder Neues zu erfahren und zu lernen. Denn die Reise hört nicht auf...Wir danken Rüdiger Schönbohm für die Antworten auf unsere Fragen.Lernen Sie mehr über die Veränderungen beim Talent Management im Grundlagen-Seminar mit Ursula Vranken und Rüdiger Schönbohm am Vortag zum Talent Management FORUM!